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Schön scheußlich

Posted By: arundhati
Schön scheußlich

Natalie Angier, "Schön scheußlich"
2001 | ISBN: 3442150949 | 381 pages | EPUB | 3,2 MB

Rezension
Die wahre Scheherazade ist die Natur. Und wie Scheherazade zaubert Na-talie Angier, die renommierte Wissenschaftskolumnistin der "New York Times", eine Überraschung nach der anderen aus dem Ärmel. Mit fundiertem Fachwissen, brillanter Eloquenz und feinsinnigem bis frechem Humor sagt die Pulitzer-Preisträgerin ihren Leserinnen und Lesern immer wieder: "Jede Geschichte, die die Natur uns erzählt, ist überwältigend."

In Deutschland hat sich Natalie Angier bereits im vergangenen Jahr mit ihrem Buch "Frau. Eine intime Geographie des weiblichen Körpers" einen Namen gemacht. In ihrem zweiten Buch bringt sie nunmehr 41 bunt gemischte Bio-Miniaturdramen: von den Rätseln der genetischen Information im Zellkern, von den Beziehungen zwischen Parasitismus und Sex, von menschlicher Hingabe und Kreativität, von Partnerschaft und elterlicher Fürsorge, von Genie und Wahnsinn, von Menstruation und Tod.

Angier beschreibt nicht nur Forschungsergebnisse, sondern auch Forscherpersönlichkeiten. Ihrer Begegnung mit dem Evolutionstheoretiker Stephen Jay Gould widmet sie ein eigenes Kapitel. Und in dem Beitrag "Die Furcht einer Enkelin" lässt sie den Leser an intimen Erlebnissen und Betroffenheiten angesichts des altersbedingten Persönlichkeitsverfalls ihrer eigenen Großmutter teilhaben.

Die Stärke der Autorin ist, das scheinbar Vertraute aus ungewohnter Perspektive zu beleuchten, aus schön scheußlich zu machen und umgekehrt. Der Delfin, ansonsten everybody’s darling, mutiert zum rüpelhaften, ja brutalen Macho, der Mistkäfer erweist sich als größter Wohltäter der Menschheit, elterliche Zuneigung gerät zur subtilen Form der Ausbeutung, prachtvolle Orchideen stellen hinterlistige Fallen, und giftige Skorpione werden bei Mondenschein zu pinkfarbenen UV-Licht-Schönheiten. Und wo schon eine Schabe zur Gottheit avanciert, werden Proteine zu Anstandsdamen, und Steroidhormone treten als Darsteller kleiner Dramen auf.

Angier neigt - wie sie freimütig eingesteht - zu "schamloser" Vermenschlichung: "Ich unterstelle nicht-menschlichen Arten alle möglichen Persönlichkeiten, Absichten, Gefühle, Eindrücke, sogar Träume und Wünsche." Und das nicht nur, um Texte spannender und humorvoller zu machen, sondern weil "man niemals in der Lage sein wird, ein anderes Wesen zu verstehen, wenn man nicht bereit ist, mit ihm zu fühlen".

So vermenschlicht sie auch die DNA, aber nicht etwa der üblichen Vorstellung entsprechend als "wohltätigen Diktator", nach dessen Befehlen sich alle Lebensprozesse organisieren, sondern als "Durchschnittspolitiker", den "eine Horde von Proteinhandlangern und Beratern umgibt, die ihn zunächst einmal gut durchmassieren, drehen und wenden und gelegentlich auch einmal völlig ummodeln müssen, bevor er Sinnvolles leisten kann". So unterhaltsam kann Molekularbiologie sein, wenn die rechten Gene und eine adäquate Umwelt bei einer Autorin die Lust und das Talent zum Fabulieren gefördert haben.

Angier steht sicherlich nicht hinter allen Theorien, die sie vorstellt. Ihr genügt es, wenn die in ihnen enthaltenen Ideen ihre eigenen Empfindungen und ihr eigenes Denken über die Natur reflektieren. Das tut sie mit jenem journalistischen Schwung, der keine Angst vor der Kritik wissenschaftlicher Erbsenzähler kennt. Gelegentlich schießt sie über das Ziel hi-naus. Aber gemessen daran, wie vergnüglich und erfolgreich sie einige der kompliziertesten Erkenntnisse der modernen Biologie vermittelt, ist das tolerierbar.

Da dieses Buch in den USA bereits 1995 erschienen ist, konnte auch die Überarbeitung manch alten Hut nicht auffrischen. So ist etwa die notorische Untreue vieler ehemals für streng monogam gehaltener Tierarten seit mehr als einem Jahrzehnt bekannt. Vorgebildete Leser sollten mehr auf neue Sichtweisen denn auf neue Fakten hoffen.

In ihrer Einleitung nimmt Angier vorweg, was abschließend über ihr Buch zu sagen ist: "Und wenn Sie manchem nur lange genug nachsinnen, um verächtlich die Nase zu rümpfen, so habe ich Sie doch immerhin unterhalten."
- Reinhard Lassek